11. März 1992
Thronrede, Fürst Hans-Adam II.
Thronrede anlässlich der Eröffnung des Landtages
am 11. März 1992
Unsicherheit über die Zukunft unseres Landes scheint Teile der liechtensteinischen Bevölkerung erfasst zu haben. Die Gründe liegen weniger in den innenpolitischen Herausforderungen als in der aussenpolitischen Problematik der europäischen Integration für das Fürstentum Liechtenstein.Bis jetzt haben wir uns aussenpolitisch weitestgehend an der Schweiz orientiert, wenn man von der UNO-Mitgliedschaft absieht. Der UNO-Beitritt war aber für unser kleines Land wichtig für den Fall, dass die enge aussenpolitische Zusammenarbeit mit der Schweiz im Bereich der europäischen Integration nicht mehr in der bisherigen Form möglich ist. Mit der Absicht der Schweiz, der EG beizutreten, ist dieser Punkt erreicht worden, es sei denn, wir entschliessen uns, ebenfalls einen Antrag auf EG-Mitgliedschaft zu stellen.Meiner Ansicht nach sind wir auf einen so grossen Schritt wie die EG-Mitgliedschaft derzeit nicht vorbereitet, und es wäre auch sehr schwer, einen innenpolitischen Konsens dafür zu finden. Wer die heutige Struktur der EG kennt, weiss, dass unser aussenpolitischer Apparat so einer Aufgabe nicht gewachsen wäre. Zum Unterschied vom EWR müssten wir in der EG nach einer Übergangsfrist die völlige Freizügigkeit beim Personenverkehr akzeptieren. Dies ist in so einem kleinen Land mit so beengtem Wohnraum ein schwer zu lösendes Problem. Solange wir innerhalb der EG das Land mit der niedrigsten Steuerbelastung für natürliche Personen wären, bestünde die Gefahr, dass wir eine grosse Zahl von Steuerflüchtlingen aus den EG-Ländern hier aufnehmen müssten. Es wäre falsch, eine EG-Mitgliedschaft Liechtensteins für immer auszuschliessen, denn sowohl die EG als auch unser Land werden sich in Zukunft sicher verändern, aber derzeit sind wir nicht in der Lage, der Schweiz in Richtung EG-Mitgliedschaft zu folgen.Damit verbleiben unserem Land kurz- und mittelfristig nur zwei Alternativen:entweder eine Isolationspolitik gegenüber der europäischen Integration oder ein Vertrag mit der EG. Von den Anhängern der Isolationspolitik werden hauptsächlich zwei Varianten diskutiert:1. Das Schweizer Volk wird die Vorschläge des Bundesrates, was den EWR und die EG-Mitgliedschaft betrifft, sowieso ablehnen, und deshalb sollte auch Liechtenstein den EWR und erst recht die EG-Mitgliedschaft ablehnen. Ich halte es für gefährlich, die liechtensteinische Aussenpolitik auf solchem Wunschdenken aufzubauen, denn wir könnten sehr schnell vor einem Scherbenhaufen stehen.2. Falls die Schweiz EG-Mitglied wird, werden wir über den Zollvertrag automatisch Zollanschlussgebiet der EG und brauchen deshalb keinen direkten Vertrag mit der EG. Diesen Weg halte ich für unrealistisch oder für äusserst risikoreich, falls die EG so eine exotische Lösung überhaupt akzeptiert.Grundsätzlich ist eine Isolationspolitik Liechtensteins gegenüber der EG sicher denkbar, nur muss man sich die langfristigen Konsequenzen überlegen. Bei einem EG-Beitritt der Schweiz wären sowohl dem Zollvertrag wie auch dem bestehenden Freihandelsvertrag mit der EG die Grundlagen entzogen. Für unsere gesamte Industrie und für jenen Teil des Gewerbes, der nicht ausschliesslich für den liechtensteinischen Binnenmarkt produziert, wäre dies gegenüber heute eine ins Gewicht fallende Verschlechterung. Einige Betriebe wären nicht mehr lebensfähig, andere müssten ihre Tätigkeit grösstenteils ins Ausland verlagern. Von so einer negativen Entwicklung wären sowohl das für den Binnenmarkt produzierende Gewerbe als auch wesentliche Teile des Dienstleistungssektors betroffen.Die einzige Sparte, die mittelfristig aus so einer Isolationspolitik wahrscheinlich gewisse Vorteile zieht, ist das Gesellschaftswesen. Nachdem weniger als 10 Prozent der Arbeitskräfte im Gesellschaftswesen beschäftigt sind, könnte selbst eine Verdoppelung in diesem Sektor eine hohe Arbeitslosigkeit nicht verhindern. Ohne einen Vertrag mit der EG über eine Freizügigkeit der Personen dürfte es für die liechtensteinischen Arbeitslosen schwierig sein, auf einen Arbeitsplatz ins Ausland auszuweichen. Ich bezweifle, ob unter diesen Umständen das Gesellschaftswesen langfristig von einer selbstgewählten Isolation profitieren kann.Verglichen mit der EG-Mitgliedschaft scheint mir deshalb die Isolationspolitik langfristig mit noch grösseren Risiken und Nachteilen verbunden zu sein. Ich bin der festen Überzeugung, dass wir versuchen sollten, einen mittleren Kurs zu verfolgen, der uns alle Optionen für die Zukunft offenhält. Dies ist aber nur über einen Vertrag mit der EG möglich, der für unsere Wirtschaft den freien Güter- und Dienstleistungsverkehr vorsieht, unserer Bevölkerung die Freizügigkeit in der EG ohne eigene Überfremdung ermöglicht und der das Gesellschaftswesen nicht existentiell bedroht.Es ist hier nicht meine Aufgabe, im einzelnen auf den EWR-Vertrag einzugehen. Die Regierung wird dem Landtag einen ausführlichen Bericht übergeben, und die Öffentlichkeit wird die Möglichkeit erhalten, über Publikationen, Vorträge und Diskussionsrunden sich im Detail zu informieren. Ich selbst habe die EWR-Verhandlungen aus nächster Nähe verfolgt, den Vertrag im einzelnen studiert und in den letzten Wochen ausführliche Gespräche in dieser Angelegenheit geführt.Meiner Meinung nach ist der EWR-Vertrag fast die optimale Lösung unseres Problemes. Natürlich könnte man sich da und dort noch kleine Verbesserungen vorstellen. Selbstverständlich stecken in diesem umfangreichen Vertragswerk einige bekannte und einige unbekannte Risiken. Eines bin ich mir aber sicher, wenn Liechtenstein den EWR-Vertrag ablehnt, wird es von der EG keinen besseren Vertrag erhalten. Uns allen sollte die Taube in der Hand wertvoller sein als der Spatz auf dem Dach.In den vergangenen Monaten sind von verschiedenster Seite in der Öffentlichkeit und im privaten Gespräch Bedenken gegen den EWR-Beitritt Liechtensteins vorgebracht worden: Es drohe der Ausverkauf der Heimat; das Gesellschaftswesen und damit eine wichtige Einnahmequelle des Staates sei gefährdet; die totale Überfremdung sei nicht mehr zu verhindern und so manches mehr. Dazu kann ich nur bemerken, dass der EWR-Vertrag uns genügend Möglichkeiten gibt, dies zu verhindern. Es liegt an uns, die richtigen Entscheidungen zu treffen. Sollte sich wider Erwarten der EWR-Vertrag als vollkommen unbefriedigend herausstellen, können wir immer noch einen Antrag auf die EG-Mitgliedschaft stellen, den Vertrag kündigen und eine Isolationspolitik verfolgen oder versuchen, einen neuen Vertrag auszuhandeln.Da der EWR-Vertrag für uns so wichtig ist, wäre es meiner Ansicht nach ein Fehler, unsere Zustimmung von der Entscheidung der Schweiz abhängig zu machen. Es ist ohne weiteres denkbar, dass das Schweizer Volk den EWR-Vertrag ablehnt und kurze Zeit später einer EG-Mitgliedschaft zustimmt. Wir müssen jedenfalls dem EWR-Vertrag zustimmen, wollen wir nicht Gefahr laufen, vor Alternativen zu stehen, die alle mit erheblichen Risiken und Nachteilen verbunden sind. Es sollte möglich sein, für eine gewisse Übergangszeit neben dem EWR-Vertrag auch den Zollvertrag weitestgehend funktionsfähig zu erhalten. Entscheidet sich die Schweiz wider Erwarten sowohl gegen den EWR wie auch gegen eine EG-Mitgliedschaft, so hätte unser Land immer noch die Möglichkeit, entweder der Schweiz zu folgen und den EWR-Vertrag zu kündigen oder die EWR-Mitgliedschaft aufrechtzuerhalten und auf den Zollvertrag zu verzichten.In unserer jüngeren Geschichte ist der EWR-Vertrag wahrscheinlich der komplizierteste und wichtigste Text, mit dem sich der Landtag auseinandersetzen musste. Sollte es bei uns zu einer Volksabstimmung darüber kommen, so haben wir alle noch zusätzlich viel Aufklärungs- und Überzeugungsarbeit zu leisten. Ein Teil der Bevölkerung wird sich eine eigene Meinung zu dieser komplexen Materie bilden, die meisten werden aber denen folgen, denen sie vertrauen. Ich hoffe sehr, und bete zu Gott, dass wir alle uns dieses Vertrauens würdig erweisen werden. In diesem Sinne wünsche ich Ihnen für die kommende Legislaturperiode viel Erfolg und Gottes Segen.